Vor kurzem fand ich einen handgeschriebenen Zettel meiner Vorgängerin Traudel Mantey, Gründerin der Selbsthilfegruppe Krebs im Mundbereich – Hals (Zunge, Kiefer), aus dem Jahr 2015. Darauf erinnert sie an die Gründung der Selbsthilfegruppe am 27.1.2003 und stellt 12 Jahre später fest, dass außer ihr selbst kein Gründungsmitglied mehr dabei ist: „weggeblieben, verstorben, Arbeitsaufnahme“.

Also gibt es die Selbsthilfegruppe seit 20 Jahren.

2004 war ich zum 1.Mal an Krebs erkrankt. Aber ich kam gar nicht auf die Idee, nach einer Selbsthilfegruppe zu suchen. Das war völlig außerhalb meines Horizonts.

Im Herbst 2013 wurde erneut ein Platenepithelkarzinom entdeckt und operativ entfernt, diesmal mit Radialislappen-Transplantation, wieder ergab eine neck Dissektion: keine Tumorzellen in den entnommenen Lymphknoten, also auch keine Bestrahlung. Doch von dieser großen OP erholte ich mich nur langsam, und ich hatte ein Loch im Hals, ein Tracheostoma, das sich auch nach 3 Monaten nicht schloss. Für das sich bei der Nachsorge die Operateure überhaupt nicht zu interessieren schienen...

Anlässlich des Deutschen Krebskongresses im Februar 2014 in den Berliner Messehallen gab Traudel Mantey im abendlichen Fernsehen ein Interview an ihrem SHG-Stand, das ich nicht gesehen hatte. Aber eine Freundin fragte mich: Hast du Interesse an einer Selbsthilfegruppe Krebs im Mundbereich? Eine Frau auf dem Krebskongress hat dafür Werbung gemacht in der Berliner Abendschau, aktiv und sehr temperamentvoll; ich habe die Telefonnummer und die Adresse und den Termin notiert.

Und ich sagte, etwas herablassend: „Naja, kann ich ja mal hingehen und mir das anschauen.“

So landete ich in der Selbsthilfegruppe.

Ich war nicht die einzige Neue im Stuhlkreis. Andere interessierte Personen kamen auch. Ich guckte mit meinem Tracheostoma in die Runde und sah: Die meisten hatte eine kleine Narbe vorn am Hals. Eher unauffällig. Ich kam wieder, denn ich hatte nun ein Motiv. Ich wollte rauskriegen: Was muss ich tun, damit das Loch sich schließt? Was mache ich falsch, dass es nicht zuheilt?

Ich merkte, dass es noch andere Probleme gab, die in der Selbsthilfegruppe besprochen wurden: Mundtrockenheit, Strahlenfolgen, Kau- und Schluckstörungen, Lymphdrainage, Logopädie, Reha, Patientenverfügung, Schwerbehindertenausweis etc.

Die Treffen waren stets sehr sachbezogen, häufig gab es ein Thema oder Fachpersonal mit einem Vortrag. Mir schienen die Zusammenkünfte aber relativ unpersönlich: Auch nach einem Jahr wusste ich die Namen der anderen nicht. Das änderte sich etwas nach einem Tagesausflug in die Gärten der Welt, den Traudel im Rahmen der Projektförderung organisiert hatte.

Im Stuhlkreis im Gruppenraum der Berliner Krebsgesellschaft fanden wir eine Kiste Wasser vor, auf jedem Stuhl einen Becher, eine Serviette und alle 2 oder 3 Monate das „Sprachrohr“, Magazin des Bundesverbands der Kehlkopfoperierten, dessen Mitglied Traudel war.

Zum erstenmal Kaffee und Kuchen bei einem Treffen gab es in einem Jahr, als der Termin auf meinen Geburtstag fiel. Das Beispiel machte Schule, und ab und zu gab es nun Kaffee und Kuchen, wenn jemand Geburtstag gehabt hatte und zur nachträglichen Feier etwas mitbrachte. So wurden die Treffen allmählich etwas persönlicher. Und auch die jährlichen Ausflüge, auf die wir uns freuten, trugen dazu bei, dass wir uns näherkamen und sich zwischen einigen Mitgliedern engere und freundschaftliche Beziehungen entwickelten.

Heute werden in der Whatsapp-Gruppe die Geburtstage, wenn sie bekannt sind, mit Gesundheits- und Glückwünschen, mit kleinen Gedichten und Fotos gefeiert. Und auch schnelle Verabredungen oder Erinnerungen an Termine werden gesimst und gemailt.

Die Corona-Pandemie führte 2019 dazu, dass persönliche Zusammenkünfte lange Zeit unterblieben, stattdessen aber online-Treffen und digitale Kontakte stattfanden und ausgebaut wurden. Die Sehnsucht nach Präsenz-Veranstaltungen wurde so am Leben gehalten.

Aus den 8 Personen, die inzwischen 10 Jahre Mitglieder der Selbsthilfegruppe sind, ist so etwas wie ein harter Kern der Gruppe entstanden.

Darum herum gruppieren sich

  • Neue, die bleiben und den Kern erweitern, die sich so schnell integrieren, dass man den Eindruck hat, sie seien schon immer dabei gewesen;
  • Neue, die nur ein- oder zweimal kommen und dann wieder wegbleiben;
  • Neue, die die Gruppe als eine Art Serviceunternehmen betrachten und nur Kontakt aufnehmen, wenn sie Rat und Hilfe brauchen,
  • oder auch alte Mitglieder, die der Gruppe verbunden bleiben und sich nur ab und zu beteiligen.

Vielleicht ist es gerade dieses Gemisch an unterschiedlichem Interesse und Einsatz, das die Gruppe stabil am Leben erhält und wachsen lässt. Jedes Mitglied kann so sein, wie es möchte.

Leider hat das Wegbleiben ab und zu auch sehr traurige Gründe und beschränkt sich nicht nur auf die Gruppentreffen: Einige Mitglieder haben wir auf diese Weise schon verloren. Auch das muss die Gruppe bewältigen und lernen, mit Tod und Trauer umzugehen.

2017 gehörte Traudel Mantey auch zu den Gründungsmitgliedern des bundesweiten Selbsthilfenetzwerkes Kopf-Hals-M.U.N.D.-Krebs e.V.

Zu den ersten Bundestreffen des Selbsthilfenetzwerks wurden außer Traudel noch ein paar weitere Gruppenmitglieder eingeladen. Auch diese Reisen schweißten uns zusammen; wir verbrachten nicht nur einen gemeinsamen Nachmittag im Monat, sondern mehrere Tage und zwei Zugfahrten miteinander.

Und inzwischen habe ich erfahren, wozu das Selbsthilfenetzwerk Kopf-Hals-Mund-Krebs darüber hinaus gut ist: bundesweit Kontakte zwischen Betroffenen und speziell zwischen Gleichbetroffenen zu vermitteln.

Nasenkrebsbetroffene können nun mit örtlich weit entfernten anderen Nasenkrebsbetroffenen sprechen, schreiben, telefonieren, skypen, um Erfahrungen auszutauschen oder bei schwierigen Krankheitsverläufen und Entscheidungen Hilfe zu bekommen (Hüftknochen als Kieferknochenersatz? OP oder Bestrahlung?).

Im Februar 2018 verstarb Traudel Manthey im Alter von 76 Jahren – einen Tag später musste ich mich meiner 4. großen Tumor-OP unterziehen. Ich war gerührt, als im Laufe meines 11-tägigen Klinik-Aufenthalts fast die ganze Gruppe zu Besuch kam. Einige nutzten auch die Gelegenheit, mit ihren Operateuren oder dem Pflegepersonal, die sie kannten, über vergangene Zeiten zu sprechen.

Seit 2018 leite ich also nun die Gruppe, die Traudel 2003 mit großem Einsatz gegründet und ständigem Engagement aufgebaut und am Leben erhalten hat. Anfangs hatte ich Angst, in ihre Fußstapfen zu treten: Sie hat mir große Schuhe hinterlassen. Dazu 18 prall gefüllte Aktenordner. Ich schaffe heute die Arbeit nur, weil viele aus der Gruppe mithelfen und ich eine sehr tüchtige Stellvertreterin habe. Im Team gibt es mehrere Schultern, die die Arbeit mittragen, so z.B. das Reha-Projekt in Plau am See.

Wenn ich heute das Gefühl habe, die Selbsthilfegruppe sei eine Art von Ersatzfamilie - sie leistet, was die eigene Familie nicht leisten kann oder will - so ähneln die jährlichen Treffen des bundesweiten Selbsthilfenetzwerks Kopf-Hals-M.U.N.D.-Krebs (und neuerdings die überregionalen Seminare und Workshops, an denen viele teilnehmen) den Zusammenkünften einer Großfamilie.

Und zum Schluss möchte ich die Mitglieder der Gruppe zu Wort kommen lassen: eine Umfrage in der Berliner Selbsthilfegruppe (Warum kommst du in die Selbsthilfegruppe?) ergab folgende Antworten:

Ich komme in die Selbsthilfegruppe, weil

  • ich nicht schief angeschaut werde, auch wenn ich schief ausschaue!
  • ich mit Gleichgesinnten Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen möchte und ich in 9 Jahre viele tolle Menschen kennengelernt habe
  • ich mich nach schwerer Zeit inzwischen stark genug fühle, über meine Krankheit zu reden, und die Sorgen von anderen anhören kann
  • ich mich sehr wohlfühle in dieser Gemeinschaft
  • mir die Gemeinschaft der Gruppe gut tut und Kraft sowie Optimismus gibt
  • ich mich austauschen und anderen Tipps geben oder auch Tipps für mich selbst annehmen kann
  • ich Infos über Therapiemöglichkeiten und Verbesserung des Gesundheitszustands erhalte und mich mit ähnlich Erkrankten austauschen kann
  • es hier lebendig ist
  • man erlebt, dass es ein Leben nach Krebs und manchmal auch mit Krebs gibt
  • man so unterschiedliche Geschichten erfährt
  • man hier nicht verdrängen oder vergessen muss, sondern unbefangen über die eigenen Erfahrungen mit der Krankheit und den Nachwirkungen sprechen kann
  • man Informationen und Anregungen bekommt
  • ich hier lauter tolle Menschen treffe, die ähnliche Erfahrungen haben wie ich selbst
  • ich sein kann, wie ich bin, und keiner fragt
  • ich Freunde gefunden habe, die ich ohne meinen Krebs nie gefunden hätte
  • die Gruppe eine 2. Familie für mich ist
  • ich Gleichgesinnte hier finde
  • man nix erklären muss
  • geteiltes Leid halbes Leid ist
  • ich mich hier in der Gruppe nicht mehr so allein fühle mit meiner Krankheit. Hier kann ich alles erzählen und es wird verstanden. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Ich finde es sehr schön, dass es solche SHG gibt.
  • ich Hilfe, Kontakte und Austausch mit Gleichbetroffenen suche
  • über Schwierigkeiten im Alltag reden möchte
  • erfahre, dass ich mit der Krankheit nicht alleine bin
  • gemeinsam nach Lösungen suchen möchte zur Bewältigung des Alltags
  • hoffe, dass wir uns gegenseitig Mut machen und einander praktische Tipps geben
  • ich hier auf ähnlich betroffene Personen stoße
  • ich mich verstanden fühle mit meinen Sorgen und Ängsten, die ich meiner Familie und speziell meinen Kindern nicht mitteilen kann/möchte: Die haben ihr eigenes Leben
  • ich Hilfe und Tipps erhalten habe und auch geben kann
  • ich zusätzliche Informationen zum Krankheitsbild, zu Behandlungen und zur Nachsorge bekomme
  • ich auf Gleichgesinnte treffe, die verstehen, dass es ein Auf und Ab im körperlichen und seelischen Befinden gibt, und man nichts groß begründen muss
  • ich mein Umfeld/meinen Bekanntenkreis erweitern möchte
  • ich mit netten Menschen Erfahrungen im Umgang mit der Krankheit austauschen möchte
  • aber auch nette Kontakte, Gespräche, Erlebnisse jenseits der Krankheit suche und erfahre
  • mein Mann sagt: Nun muss doch mal Schluss sein mit dem Krebs. Aber das ist nie zu Ende. Der Krebs ist immer da, mit den Einschränkungen und Ängsten, er ist nicht nur in der Erinnerung stets präsent. Das verstehen meist nur die
  • Menschen in der Gruppe
  • ich so viel Unterstützung und Zuwendung in der Gruppe erfahren habe, dass ich etwas davon zurückgeben möchte

Es gibt wohl tausende von Gründen. Die Liste erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit!

Und so sind wir Berliner dankbar für die letzten 20 Jahre gemeinsamem unterwegs sein in der Selbsthilfe, genießen das aktuelle Miteinander und freuen uns gemeinsam auf die Zukunft!

Barbara Müller, Berlin